Aufgabenverteilung zwischen Arzt und Anästhesist bei praxisambulanter Operation

Ein 9-jähriges Kind, dass sich in Begleitung seines Vaters in der Praxis eines HNO-Arztes einer Operation zur Verbesserung der Nasenatmung unterzog, wobei es von einer Anästhesistin in Narkose versetzt wurde, und das Kind nach der Operation im Aufwachraum nicht mehr atmete und eine Woche später verstarb, verurteilte das Amtsgericht Hamburg-​Harburg nur die Anästhesistin wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen.

Grund: Sie habe während der Aufwachphase mangels Pulsoxymeter keine ordnungsgemäße kontinuierliche Überwachung der Sauerstoffsättigung sichergestellt. Im Aufwachraum sei, entgegen dem fachlichen Standard, keine Pulsoxymeter vorhanden gewesen. Die Pflicht, eine solche Überwachung sicherzustellen, habe neben dem für die Operation verantwortlichen HNO-Arzt  auch die Anästhesistin getroffen. Wäre das Kind ordnungsgemäß überwacht worden, hätte es nach den Feststellungen des Amtsgerichts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohne Schäden überlebt.

Ein Strafverfahren gegen den HNO-Arzt, in dessen Praxis eine kontinuierliche Überwachung des Kindes mangels räumlich-apparativer wie personeller Infrastruktur nicht möglich war, wurde schließlich nach § 153a StPO eingestellt und das OLG verwarf den Antrag der Kindesmutter im Klageerzwingungsverfahren sowie eine Anhörungsrüge.

Für die Zusammenarbeit zwischen Anästhesist und Operateur gelten, soweit vor Ort nichts Abweichendes vereinbart ist, die zwischen den beteiligten Berufsverbänden und Fachgesellschaften getroffenen Vereinbarungen über die Aufgaben und Verantwortungsteilung.

Danach hat der Anästhesist eigenständig zu prüfen, ob Art und Schwere des beabsichtigten Eingriffs unter Berücksichtigung des gesundheitlichen Zustandes des Patienten und der vorhandenen räumlich-​apparativen wie personellen Infrastruktur unter Prüfung des häuslichen Umfeldes des Patienten eine ambulante Durchführung des Eingriffes erlauben.

Fraglich ist hier, ob auch der Operateur eine entsprechende Mitverantwortung trifft. Die Gesamtverantwortung eines jeden Einzelnen wird begrenzt durch die auf dem Vertrauensgrundsatz basierende Erwartung, dass die anderen den ihnen obliegenden Aufgabenteil mit den dazu erforderlichen Kenntnissen und der gebotenen Sorgfalt erfüllen. Eine gegenseitige Überwachungspflicht besteht in der Regel insoweit nicht. Diese wäre nur dann zu bejahen, wenn es einen triftigen Anlass hierfür gibt.

Das Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23.03.2020, Az.:  2 BvR 1615/16 entschied:

Soweit das Oberlandesgericht zu der Annahme gelangt ist, dass allein die Anästhesistin für die postoperative Überwachung verantwortlich und damit nur sie verpflichtet war, im Vorfeld der Operation über die sich hieraus ergebenden Risiken aufzuklären, ist die Beweiswürdigung nicht mehr nachvollziehbar und es liegt ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG.  Die Beweiswürdigung lasse wesentliche Aspekte der zur Verfügung stehenden Beweismittel unberücksichtigt und hierfür sei ein vernünftiger Grund nicht erkennbar.

Unter anderen führt das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungsgründen aus:

„Der vom Gericht zitierten Passage liegt damit erkennbar der Vertrauensgrundsatz zugrunde, wonach sich Operateur und Anästhesist wechselseitig darauf verlassen können und müssen, dass der Partner mit dem ihm zugeordneten Pflegepersonal seine Tätigkeit mit der erforderlichen Qualifikation und gebotenen Sorgfalt ausübt. Es ist nicht verständlich, warum das Oberlandesgericht hier eine Auseinandersetzung mit der Frage unterlässt, ob der Beschuldigte Dr. B. sich überhaupt auf den Vertrauensgrundsatz berufen konnte, obwohl ihm - nach den eigenen Feststellungen des Gerichts - sehr wahrscheinlich deutlich vor Augen stand, dass im Aufwachraum eine kontinuierliche Patientenüberwachung weder personell noch technisch gewährleistet war.“

Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 30. Mai 2016 ist aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 6. Juli 2016 wird damit gegenstandslos.

Katharina Lieben-Obholzer , Rechtsanwältin bei KMW

(Stand: 15.08.2020)