Ärztlicher Leiter im MVZ haftet für Abrechnungsfehler angestellter Ärzte?

Die folgende Entscheidung sollte von ärztlichen Leitern eines medizinischen Versorgungszentrums beachtet werden, denn in Zukunft erweitern sich die Risiken im vertragsärztlichen Bereich nicht unerheblich:  

SG München, Gerichtsbescheid vom 22. Januar 2021, Az. S 38 KA 165/19

In dem Fall ging es um ein MVZ in München mit zwei Praxen an zwei Standorten, die acht Kilometer auseinanderlagen. Für beide Praxen war das MVZ als Praxisgemeinschaft angemeldet. Beschäftigt waren dort jeweils Ärzte mit annähernd identischen Fachrichtungen (Orthopädie-Chirurgie). Nachdem sich ein Verdacht der Implausibilität wegen der großen Anzahl gemeinsamer Patienten ( u. a. auch Doppelbehandlungen) ergab, forderte KV insgesamt 78.674,68 Euro an Honoraren zurück.

Gegen den ärztlichen Leiter des MVZ´s wurde eine Geldbuße in Höhe von 8.000 EUR zuzüglich einer Gebühr in Höhe von 900 € verhängt. Denn er sei vor der Unterzeichnung der jeweiligen Sammelerklärung des MVZ verpflichtet gewesen, die Abrechnung im Hinblick auf die Ordnungsgemäßheit und Vollständigkeit der Leistungsdokumentation zu prüfen. Bei der Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung handelt es sich um eine Grundpflicht und eine der tragenden Säulen des vertrauensbasierten Vertragsarztsystems. Diese Pflicht ist aus der Überlegung heraus entwickelt worden, dass nur ein geringer Teil der Abrechnungen überprüft werden kann. Hiergegen habe der ärztliche Leiter unter mehreren Aspekten verstoßen.

Der Einwand - der ärztliche Leiter habe die Leistungen nicht erbracht, etwaige Abrechnungsfehler seien ihm daher nicht zuzurechnen - sei deshalb unerheblich. Voraussetzung für die Verhängung einer Disziplinarmaßnahme ist ein Verschulden als subjektiver Tatbestand, wobei ein fahrlässiges Verhalten genügt. Es ist zumindest von Fahrlässigkeit auszugehen, wenn der Arzt in seiner Eigenschaft als ärztlicher Leiter unter mehreren Aspekten gegen seine Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung verstoßen hat. 

Entsprechend der Schwere der Verfehlung hielt das SG München eine Geldbuße für angemessen und verhältnismäßig.

Hinweise zur Verantwortungsabgrenzung im MVZ, Rechtsprechung Bundessozialgericht: 

Das Bundessozialgericht hat bisher die Frage offen gelassen, ob der Ärztliche Leiter – neben der Gesamtverantwortung gegenüber der KV – auch die Verantwortung zur peinlich genauen Honorarabrechnung trägt (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2011, Az. B 6 KA 33/10 R).

Unstrittig ist mittlerweile,

  • dass dem ärztlichen Leiter eines MVZ eine besondere Pflichtenstellung hinsichtlich des ordnungsgemäßen Ablaufs der vertragsärztlichen Versorgung im MVZ zukommt und
  • er die Verantwortung für die ärztliche Steuerung der Betriebsabläufe und eine Gesamtverantwortung gegenüber der KÄV hat (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.02.2010, Az. L 7 KA 169/09 B ER; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.02.2016, Az. L 11 KA 59/15 B ER; Landessozialgericht Bayern, Urteil vom 27.01.2016, Az. L 12 KA 69/14).

Zur Verantwortungsabgrenzung wichtige Grundsätze finden sich im BSG-Urteil vom 21.03.2012, Az.: B 6 KA 22/11 R, Rn. 26:

„Für die organisatorischen Abläufe, insbesondere den Einsatz der Ärzte und für die Korrektheit der Abrechnung, ist das MVZ selbst verantwortlich, während die Verantwortung für die ordnungsgemäße Behandlung der Patienten in medizinischer Hinsicht in erster Linie dem einzelnen behandelnden Arzt obliegt; dieser muss dafür berufs- und haftungsrechtlich einstehen; zusätzlich unterliegt er der Disziplinargewalt der KÄV.“

Praxishinweis:

  •  In Anbetracht des Urteils des Sozialgerichts München sollte jeder ärztliche Leiter berücksichtigen, dass diese Tätigkeit auch mit einer disziplinarrechtlichen Verantwortung verbunden sein kann.
  • Die dogmatische Einordnung der Abrechnungs-Sammelerklärung orientiert sich an dem in einer Einzelpraxis tätigen Vertragsarzt. Als Inhaber des Honoraranspruchs konnte und musste der Vertragsarzt garantieren, dass er die abgerechneten Leistungen persönlich und ordnungsgemäß erbracht hat. Wie ein ärztlicher Leiter eines MVZ für andere Ärzte diese Erklärung abgeben kann, lässt sich aus der Entscheidung nicht entnehmen. Ein ärztlicher Leiter kann die Richtigkeit der Abrechnung nur nach bestem Wissen und Gewissen bestätigen, eine Abrechnungsprüfung jeder einzelnen Position dürfte praktisch (fast) unmöglich sein. 
  • § 18 Abs. 1 der Satzung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns sieht in der aktuellen Fassung sogar Geldbußen bis zu einer Höhe von 50.000,00 EUR vor.
  • Die Übernahme der Stelle des ärztlichen Leiters in einem MVZ sollte deshalb wohl überlegt sein.
  • Auch sollte sich der ärztliche Leiter gegen Haftungsansprüche der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung absichern.
  • Nicht ausgeschlossen ist zudem, dass die Unterschrift zumindest zur Begründung für einen Anfangsverdacht eines Abrechnungsbetrugs (§ 263 Abs. 1 StGB) herangezogen wird.
  • Die durch das Bundesozialgericht dem ärztlichen Leiter zugewiesene Gesamtverantwortung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung  führte dazu, dass einzelne Kassenärztliche Vereinigungen ihren HVM dahin ergänzten, dass die Abrechnungs-Sammelerklärung durch den ärztlichen Leiter des MVZ zu unterzeichnen sei. Die Rechtmäßigkeit wurde bestätigt durch das LSG Essen (Beschl. v. 24.02.2016, Az. L 11 KA 58/15 B ER Rn. 68). Auch das LSG Stuttgart (Urt. v. 28.10.2020, Az.: L 5 KA 2789/17) entschied, dass der HVM vorgeben könne, dass die Sammelerklärung sowohl durch den rechtsgeschäftlichen Vertreter des MVZ als auch zusätzlich durch dessen ärztlichen Leiter unterschrieben werde. Teilweise verlangen Kassenärztliche Vereinigungen die Unterschrift des ärztlichen Leiters ohne ausdrückliche normative Grundlage. 

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Katharina Lieben-Obholzer, Rechtsanwältin bei KMW